Diagrammatik

Schaubilder stellen Sachverhalte, Ereignisabläufe oder andere Zusammenhänge anhand von Relationen aus und bringen so Strukturen, Beziehungsmuster und Vergleichbarkeiten zur Erscheinung. Sie lassen damit auch erkennen, wie eine entsprechend veranschaulichte Gestalt ggf. abgewandelt werden kann. Ihre Heuristik beruht auf einem Wechselspiel von zwei komplementären Operationen:

  • Layout – Auslegen von Konfigurationen (= Beziehungsgefügen) in einem Schauraum
  • Display – Aufzeigen und Durchspielen der Konfigurationen mit Blick auf mögliche Re-Konfigurationen

Da diese beiden Operationen einerseits bis zu einem bestimmten Komplexitätsgrad ‚im Kopf‘ durchgeführt werden können und es andererseits möglich ist, auch in Texten Konfigurationen zu sehen, die eine Display-Funktion aufweisen, ist das diagrammatische Vorstellen, Denken und Schlussfolgern nicht auf den Umgang mit Schaubilder beschränkt, die dem Menschen materialiter vor Augen stehen.

Schon Charles Sanders Peirce, dem die Diagrammatik wesentliche Anregungen verdankt, sprach von einem kognitiven Modus, den er ‚diagrammatoidal reasoning‘ nannte. In seiner Semiotik rangieren die diagrams (Schaubilder) neben den images als eine eigene Subkategorie der ikonischen Zeichen, die mit Blick auf alles Vorstellen, Nachdenken, Schlussfolgern modellbildend sind. Stets geht es um die imaginäre oder plastische Vergegenwärtigung von Relationen, die Ableitungsverhältnisse darstellen und in dieser Hinsicht rational sind.

Roman Jakobson wiederum hat darauf hingewiesen, dass sich diagrammatische Strukturen im gesamten Bau der menschlichen Sprache auffinden lassen, während Alfred Korzybski am Beispiel der Karte und ihres Vergleichs mit der Sprache die Aufmerksamkeit auf die konstitutive Differenz gelenkt hat, die bei allen diagrammatischen Medien zu beachten ist:

„Two important characteristics of maps should be noticed. A map is not the territory it represents, but, if correct it has a similar structure to the territory, which accounts for its usefulness. If the map could be ideally correct, it would include, in a reduced scale, the map of the map; the map of the map, of the map; and so on, endlessly, […]. If we reflect upon our languages, we find that at best they must be considered only as maps. A word is not the object it represents; and languages exhibit also this peculiar self-reflexiveness, that we can analyse languages by linguistic means. This self-reflexiveness of languages introduces serious complexities, which can only be solved by the theory of multiordinality […]. The disregard of these complexities is tragically disastrous in daily life and science” (A. Korzybsky, Science and Sanity p. 58).

Entscheidend ist somit die Verbindung von Strukturähnlichkeit und Differenz. Unter dieser Voraussetzung kann man überall dort nach diagrammatischen Relationen und Operationen Ausschau halten, wo ein ‚anschauliches Denken‘ (Rudolf Arnheim) gefragt ist, welches Schlussfolgerungen an die Bildung von Vorstellungen koppelt, die sich auf das mehr oder weniger dynamische Beziehungsgefüge von Sachverhalten oder Ereignisabläufen konzentrieren. Dies ist nicht zuletzt beim Erzählen von Geschichten der Fall, so dass sich die von Paul Ricœur für narrative Texte entwickelte Prozesslogik von Prä-, Kon- und Refiguration als kulturell höchst bedeutsame Erscheinungsform des ‚diagrammatoidal reasoning‘ auffassen lässt:

Ausgehend von jener Präfiguration der Welt, die durch miteinander vernetzte Konzepte respektive Relationsbegriffe wie ‚Akteur‘, ‚Aktion und Reaktion‘, ‚Motiv‘, ‚Widerstand‘, ‚Gegenspieler‘ etc. gegeben ist und sich vor allem – wenn auch keineswegs ausschließlich – im Begriffssystem der Sprache manifestiert, wird ein Sachverhalt oder Ereignisablauf im Erzählvorgang so konfiguriert, dass der Welt eine bestimmte Verlaufs- und Bedeutungsgestalt zukommt, die ihrerseits wiederum bestimmte (pragmatische) Rückschlüsse auf Handlungsoptionen erlaubt. Da allerdings jede narrative Konfiguration im Lichte der Erfahrungen und Erwartungen interpretiert und evaluiert wird, die ein Leser an den Text heranträgt, kommt es im Verlauf der Lektüre zu einer Refiguration – und immer dann, wenn Lesarten in Schreibweisen überführt werden, zu literarischen Transfigurationen der bereits gegebenen Verlaufs- und Bedeutungsgestalt.

Sieht man die Konfiguration nun als ein Layout von Sinnzusammenhängen, die auf Beziehungen beruhen, erhalten narrative Texte, die solche Zusammenhänge aufzeigen, durchspielen und in Frage stellen, eine spezifische Display-Funktion. Das aber heißt, dass es beim Geschichten-Erzählen wie beim Auslegen einer Story auf diagrammatische Relationen und Operationen ankommt und dass intertextuelle und transmediale Transformationen (einer Geschichte, eines Stoffes) als Vorgänge betrachtet werden können, die auf Strukturähnlichkeiten im Bewusstsein der Differenz abheben.

Von hier aus erhellt sich die Relevanz der Diagrammatik für ‚Poetiken des Übergangs‘, ‚Grenzen der Ähnlichkeit‘, ‚Katastrophendiegese und -exegese‘, ‚Weltgehalt und Eigensinn‘.

 

Personen:

Prof. Dr. Matthias Bauer

Nils Kasper MA

 

Weiterführende Literatur:

  • Arnheim, Rudolf. Anschauliches Denken. Zur Einheit von Bild und Begriff. Köln 1999.
  • Jakobson, Roman. „Die Suche nach dem Wesen der Sprache.“ In: Ders. Semiotik. Ausgewählte Texte 1919-1982. Frankfurt am Main 1988, S. 77-98,
  • Korzybski, Alfred. Science and Sanity. An Introduction to non-Aristotelian Systems and General Semantics. Fifth Edition. With Preface by Robert P. Pula and revised and updated index. Englewood 1994.
  • Peirce, Charles S[anders]. The Essential Peirce. Selected Philosophical Writings. Two volumes. Bloomington 1998.
  • Peirce, Charles S[anders]. Semiotics and Significs. The Correspondence between Charles S. Peirce and Lady Welby. Bloomington 1977.
  • Ricœur, Paul. Zeit und Erzählung. 3 Bde. München 1988, 1989 und 1991.

 

Veröffentlichungen zur Diagrammatik von Matthias Bauer:

  • (Im Druck). „Zwischen Notation und Exemplifikation. Zur Funktion von Diagrammen im Anschluss an Nelson Goodman.“ In: Musikformulare und Presets. Hrsg. v. Alan Fabian, Ismail-Johannes Wendt.
  • (2016). „Pattern language and space syntax: Alexander, Chomsky, Peirce and Wittgenstein.” In: Thinking with diagrams. The Semiotic Basis of Human Cognition. Ed. by Sybille Krämer, Christina Ljungberg.  Berlin, München, Boston 2016, p. 209-224.
  • (2015). Michelangelo Antonioni. Bild Projektion Wirklichkeit. München 2015.
  • (2014). „Plot, Master-Plot, and related Matters. Überlegungen zu einer Diagrammatik der Narration.“ In: Diagramm und Narration. Hrsg. v. Hartmut Bleumer. lili Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 44,176 (2014), S. 31-50.
  • (2010). „Diagrammatology, Scenographic Media, and the Display Function of Art.” In: Studies in Diagrammatology and Diagram Praxis. Ed. by Olga Pombo, Alexander Gerner.  London 2010 (= Studies in Logic. Logic and Cognitive Systems. 24), p. 125-142.
  • (2010). „Die Nachtwache als Bildrätsel und Tagtraum. Diagrammatische Operationen bei Rembrandt und Greenaway.“ In: Das erzählende und das erzählte Bild. Hrsg. v. Alexander Honold, Ralf Simon. München 2010, S. 441-497.
  • (2010). [Zus. mit Christoph Ernst]. Diagrammatik. Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld. Bielefeld 2010.
  • (2008). „Spiegel, Strom und See. Rätselhafte Sinnbilder des Bewusstseins. In: Kunst und Kognition. Interdisziplinäre Studien zur Erzeugung von Bildsinn. Hrsg. v. Matthias Bauer, Fabienne Liptay und Susanne Marschall. München 2008, S. 215-243.
  • (2006). „Evidenz und Konjektur. Zur Dynamik von index, diagram und symbol.“ In: Bildtheorie des Films. Hrsg. v. Thomas Koebner, Thomas Meder, Fabienne Liptay. München 2006, S. 172-192.
  • (2005). Romantheorie und Erzählforschung. Eine Einführung. 2. Aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart, Weimar 2005, S. 190-192 und 201-204.
  • (2005). Schwerkraft und Leichtsinn. Kreative Zeichenhandlungen im intermediären Feld von Wissenschaft und Literatur. Freiburg 2005, u.a. S.55-62, 122-142, 330-352.
  • (1997). Romantheorie. Stuttgart, Weimar 1997, S. 219-222.
  • (1992). „Roman und Semiotik – ein Überblick.“ In: Wirkendes Wort 42,3 (1992), S. 478-494.