Weltgehalt und Eigensinn

Zu den vielleicht bedeutendsten Aufgaben der Literaturwissenschaft in den kommenden Jahrzehnten zählt die Erörterung der Frage, Inwiefern sich kulturwissenschaftliche und erzähltheoretische Ansätze so aufeinander beziehen lassen, dass keine der beiden Heuristiken Einbußen zugunsten der jeweils anderen erfährt. Dass solche Vermittlungen alles andere als einfach sind, zeigen in letzter Zeit nicht allein die Diskussionen um ‚Re-Philologisierung‘, sondern auch die geringe Anzahl von Arbeiten, die erzähltheoretische und kulturwissenschaftliche Fragen erörtern.

Das Vorhaben „Weltgehalt und Eigensinn“ fragt nach der latenten oder manifesten Hervorbringung, nach der Präsenz/Absenz und den Darstellungsweisen eigenlogischer Handlungsweisen und Gesellschaftsprozessen in literarischen Texten. Voraussetzung für die Darstellung von Eigenlogischem ist die Aktualisierung von Wissen über die gewöhnlichen Abläufe, epistemischen Zusammenhänge und Interdependenzen. Um die sich im 19. Jahrhundert bereits zunehmend globalisierende Welt und die zunehmend fragmentierte und funktional differenzierte Gesellschaft darzustellen, ist eine Analyse erforderlich, die sich in das freie Spiel des künstlerischen Textes einschreibt, gleichzeitig als eine eigene Ebene erkennbar bleibt und zur Hintergrundfolie für das wird, was im Rahmen des Projektes als ‚Eigensinn‘ bezeichnet wird: Ein Empfinden, Denken und Handeln, das quer steht zu Mechanismen funktionaler Differenzierung, bereits vorhandener Episteme, gesellschaftlichen Institutionen etc.

‚Eigensinn‘ ist in der Kunst und in der Welt zu finden, deshalb verbindet das Forschungsvorhaben notwendigerweise erzähltheoretische und kulturwissenschaftliche Erkenntnisinteressen. So stellt sich die Frage, inwiefern Probleme, die für den Wandel der Gesellschaft und ihre Wissensordnungen symptomatisch sind (dazu gehören Ökonomisierung, ‚Welt‘ im Sinne des Erdballs als imaginärer Resonanzraum u.a.) in literarischen Texten bald nach ihrem Aufkommen thematisiert werden, um auf ihrem Hintergrund ‚Eigensinn‘ neu zu verhandeln. Da dieser mittels erzähltechnischer Verfahren hergestellt wird, handelt es sich zugleich um künstlerisch-ästhetischen Eigensinn (der in die Domäne der Erzähltheorie gehört) und um gesellschaftliche Widerständigkeit (die zu den genuinen Untersuchungsgegenständen der Kulturwissenschaft gehört).

Romane verhandeln das Spannungsverhältnis von Weltgehalt und Eigensinn und vermitteln beides auf breiter Basis, in vielgestaltiger und akkurater Weise. Gerade deshalb erfordern sie sowohl literaturtheoretische als auch kulturwissenschaftliche Untersuchungsansätze.

Der Roman gilt seit Sterne, Goethe und Jean Paul als jene Form der literarischen Welterfassung, in der sich die persönliche Manier sowohl der Figuren als auch der Erzählinstanzen Ausdruck verschafft. Dem entsprechend lautet der Grundsatz Nr. 938 in den Maximen und Reflexionen:

„Der Roman ist eine subjektive Epopöe, in welcher der Verfasser sich die Erlaubnis ausbittet, die Welt nach seiner Weise zu behandeln. Es fragt sich also nur, ob er eine Weise habe; das andere wird sich schon finden.“

Man könnte den Roman somit als das Genre der Erzählkunst verstehen, in dem das Wechselspiel von Weltgehalt und Eigensinn – exzessiv wie intensiv – auf die Spitze getrieben wird: im gleichsam enzyklopädischen Ansatz der Welterfassung wie in der Darstellung individueller Besonderheiten und Absonderlichkeiten. Gerade die Diskursformate der so genannten ‚psycho narration‘ (Dorrit Cohn) – erlebte Rede, innerer Monolog und Bewusstseinsstrom – belegen, wie der Eigensinn der Figuren die Welterfassung subjektiviert, während die Vermittlungstätigkeit der Erzählinstanzen darauf abzielt, den intersubjektiven Sinn des Textes gleichwohl zur Geltung zu bringen.

Das Projekt untersucht dieses Wechselspiel an Romanen, die im ‚langen‘ 19. Jahrhundert von 1789 bis 1917 und im ‚kurzen‘ 20. Jahrhundert von 1918 bis 1989 entstanden sind. Es lotet insbesondere das Spannungsfeld aus, das zwischen dem ‚Romanhaftwerden der Welt‘ und dem zunehmenden ‚Zweifel an der Erzählbarkeit von Welt‘ besteht und setzt dabei auf die Schlüsselbegriffe der Irritabilität, Responsivität und Dialogizität. Ihre ästhetische Relevanz lässt sich mit einer Bemerkung von Albert Camus aus seinem Essay Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde (1942) umreißen:

„Die Auslegung ist vergänglich, aber der sinnliche Eindruck bleibt und mit ihm die unaufhörlichen Anrufe eines quantitativ unerschöpflichen Universums. Hier, begreift man, liegt der Ort des Kunstwerks.“

Wenn der Roman, wie Michail M. Bachtin erklärt hat, die literarische Kunstform darstellt, in der die Dialogizität von sozialem Redeverkehr und psychischem System (Bewusstsein) immer neu konfiguriert wird und die Empfänglichkeit des Menschen selbst für jene Anrufe kultiviert wird, die den Sinn des Daseins und den Wert der Schöpfung infrage stellen, lässt sich ‚Eigensinn‘ als jene Form der Responsivität auffassen, die den Irritationen des Subjekts durch Umwelteindrücke eine Manier entgegensetzt, in der sich ein mitunter idiosynkratischer Anspruch auf Urheberschaft behauptet – ein Anspruch, auf den Verzicht zu leisten in zahlreichen Romanen zu den großen Versuchungen respektive Zumutungen der Moderne gerechnet wird. Indem sie diese Problematik aufzeigen und Möglichkeiten der Widerständigkeit durchspielen, verleihen Romane den Momenten der Irritabilität, Responsivität und Dialogizität zusätzlich zu ihrer ästhetischen Relevanz eine politische Funktion.

Gleichzeitig lässt sich am Wandel der romanhaften Konfigurationen von Weltgehalt und Eigensinn eine Geschichte der Mentalitäten und Habitualitäten ablesen, die – anstatt einem Master-Plot oder einer großen Erzählung zu folgen– in eine Vielzahl von Narrationen und Narrativen zerfällt. Ziel der Untersuchungsreihe ist es nicht etwa, diese Vielzahl zu reduzieren, sondern ganz im Gegenteil als pragmatisches Repositorium der Kultur zu profilieren.

Die Untersuchungsreihe wird in einer Schriftenreihe zu einzelnen Romanen dokumentiert und mündet in eine Überblicksdarstellung.

Projektleitung:

Prof. Dr. Matthias Bauer
Prof. Dr. Iulia-Karin Patrut