Grenzen der Ähnlichkeit

Für viele Wissenschaftler gilt es als ausgemacht, dass man sich auf Ähnlichkeiten nicht verlassen könne, da sie angeblich lediglich Oberflächenphänomene betreffen oder, schlimmer noch, täuschen und Fehlschlüsse provozieren. Wer die ‚wahre Natur der Dinge‘ erkennen will, muss sie zu unterscheiden wissen. Alles Forschen, Lehren und Lernen, so scheint es, setzt daher auf Differenz.

Wenn Identität und Differenz ausgesetzt werden, ist dies besonders für jene Heuristiken problematisch, die auf Geltung binärer Unterscheidungen angewiesen und auf Systemdenken ausgerichtet sind. Für offene Heuristiken, die ihre Aufgabe in der Modellierung an sich transformierbarer Erkenntnisrahmen sehen, ist Ähnlichkeitsdenken weniger bedrohlich, als für solche, die lediglich danach fragen, was angesichts bestehender Unterscheidungskategorien der Fall ist. Mehr noch, Ähnlichkeitsrelationen können sich für konjektural ausgerichtete Heuristiken als Ressource erweisen, um Teile der Episteme kritisch zu hinterfragen oder sie zu subvertieren, zu transformieren und neue Erkenntnisszenarien zu generieren. Ähnlichkeitsdenken kann sowohl ästhetische und heuristische, emotionale und kognitive Prozesse verknüpfen und neue Handlungs- und Erkenntnisszenarien und neue diagrammatische Anschauungsräume generieren. Gleichwohl besitzt das Ähnlichkeitsdenken auch eine Kehrseite, die nach Uniformierung, einem Nullpunkt absoluter Identität und Auslöschung des Vielfältigen und Vielgestaltigen strebt und das Gegenteil transformatorischer Generativität bedeutet. Zwischen diesen beiden Potentialen des Ähnlichkeitsdenkens eruiert und vermisst das für Interdisziplinarität offene Forschungsvorhaben Ähnlichkeitsrelationen in Literatur, Kunst, Wissenschaftsgeschichte, Diskursgeschichte und Philosophie. Es fragt nach dem Wandel des Ähnlichkeitsdenkens selbst, aber auch nach dessen Anteil an epistemischen, gesellschaftlichen, literatur- und kunsthistorischen Transformationen. Zeitlich ist das Vorhaben offen für Einzeluntersuchungen wie für übergreifende Darstellungen von der Antike bis zur Gegenwart.

Jedenfalls ist schwer zu bestreiten, dass es im zwischenmenschlichen Umgang, im gesellschaftlichen Verkehr und im interkulturellen Dialog in zahlreichen Fällen darauf ankommt, Gemeinsamkeiten auszubilden, die auf der Wahrnehmung von Ähnlichkeiten beruhen. Ähnlichkeiten erlangen offenbar immer dann soziale und politische Relevanz, wenn sie Ausgleichsoperationen ermöglichen und dazu beitragen, als Ungerechtigkeit empfundene Ungleichheit abzubauen.

Bedeutsam werden Ähnlichkeiten aber auch in ästhetischen und heuristischen Zusammenhängen, in denen es auf Vergleichsoperationen ankommt, die am Nicht-Identischen etwas Anderes als nur das Differente aufweisen.

Es fragt sich daher erstens, ob und wie das Erfinden und Auffinden von Ähnlichkeiten, das für ästhetische und heuristische Zusammenhänge charakteristisch ist, mit dem Zusammen-Finden aufgrund von Gemeinsamkeiten verbunden ist, auf das es im sozialen und politischen Bereich ankommt – sowie zweitens, ob diese Produktivität von Ähnlichkeit nicht zu einem anderen Urteil über das Ähnliche führt als jenes, das Nelson Goodman in seinem kanonisch gewordenen Aufsatz Seven Strictures on Similarity formuliert hat.

Anknüpfend an Arbeiten von Anil Bhatti und Dorothee Kimmich, Gert Mattenklott et al. soll somit die Produktivität von Ähnlichkeit aufgezeigt, zugleich aber an Fallanalysen und Modellstudien durchgespielt werden, welche Grenzziehungen diese Produktivität verlangt. Bereits die im Zeitalter der Aufklärung veröffentlichten Überlegungen zu Ähnlichkeit und Unähnlichkeit legen nämlich die Annahme nahe, dass es gerade die ‚constraints‘ sein könnten, durch die das Denken in Ähnlichkeiten produktiv wird. Dieser Annahme folgend soll das Augenmerk der Flensburger Forschungen zu ‚Grenzen der Ähnlichkeit‘ insbesondere auf den Zusammenhang von Ähnlichkeit und Wandel, von Similarität und Transformativität gelegt werden. Die Leitidee lässt sich wie folgt rekapitulieren:

Ähnlichkeit ist ein relationaler Begriff, der mindestens zwei Phänomene aufeinander bezieht. Ist das Ähnliche dem Gleichen näher als das Unähnliche, bedarf es zur Angleichung der Phänomene nur vergleichsweise weniger Transformationen. Gleichwohl könnte es sein, dass deutlich ausgeprägte Ungleichheit ein stärkerer Antrieb für persönliche und gesellschaftliche Wandlungsprozesse darstellt als partielle Gleichheit (= Ähnlichkeit). Es scheint hier eine Dialektik vorzuliegen, die auch deshalb untersuchungsbedürftig ist, weil a priori keineswegs davon ausgegangen werden kann, dass sich Ähnlichkeit in verschiedenen Gegenstandsbereichen oder unterschiedlichen Zeiträumen gleichförmig auswirkt.

Literarischen Texten und anderen Kunstwerken kommt aufgrund ihrer Display-Funktion die Aufgabe zu, Ähnlichkeitsrelationen respektive Korrelate von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit aufzuzeigen und durchzuspielen, darzustellen und in Frage zu stellen. Sie vermessen das Intervall von Similarität und Transformativität – also den Spielraum des persönlichen und gesellschaftlichen Wandels –, indem sie sowohl die Verfahren der Distinktion (der Markierung von Unähnlichkeit) als auch die Verfahren der Identifikation (der Demarkation von Unähnlichkeit) offenlegen und Anschauungsmodelle für gelungene oder misslungene Wandlungsprozesse liefern.

 

Weiterführende Literatur:

Nelson Goodman: „Seven Strictures on Similarity“. In: Nelson Goodman, Problems and Projects. Indianapolis New York 1972, p. 437-446.
Gerald Funk / Gert Mattenklott / Michael Pauen (Hg.): Ästhetik des Ähnlichen. Zur Poetik und Kunstphilosophie der Moderne. Frankfurt am Main 2001.
Anil Bhatti / Dorothee Kimmich (Hg.) unter Mitarbeit von Sara Bangert: Ähnlichkeit. Ein kultuttheoretisches Paradigma. Konstanz 2015.

Tagungsprogramm: Lektüren der Ähnlichkeit um 1800

Iulia-Karin Patrut